Gibt es im Schach960 Eröffnungstheorie? „Ja, aber anders“, sagt Vincent Keymer. Natürlich könne sich niemand zu 960 Stellungen Analysen und Varianten merken. Aber schon jetzt, in der Pionierzeit des Schachs960, hätten sich einige Leitlinien und Konzepte ergeben, die zu befolgen die Orientierung in unbekannten Grundstellungen erleichtern kann.
4 Eröffnungsgesetze im Schach960
1. Vorsicht, frühe Tricks!
Chess.com-Chefreporter Peter Doggers pflegt eine „historische“ Schach960-Datenbank mit allen Partien, die je bei 960-Turnieren zwischen Menschen gespielt worden sind: Fast 3400 Partien, beginnend im Jahr 2001, als Freestyle-Kommentator Peter Leko erster 960-Weltmeister wurde. Interessant daran unter anderem: Eine ganze Reihe dieser Partien dauerte nur zwei oder drei Züge.
Der Grund dafür: frühe Tricks. Wer im Schach960 nicht aufpasst, kann schon im ersten Zug Material einstellen.
Vincent Keymer zum Beispiel hätte ein solches Missgeschick unterlaufen können, als Ding Liren schon mit seinem Eröffnungszug 1.c2-c4 den schwarzen h-Bauern angriff:
2. Frühe Fianchettos!
Die „lange Diagonale“ heißt so, weil es auf dem Schachbrett keine längere gibt. Und wo könnten sich die langschrittigen Läufer wohler fühlen, als auf der längstmöglichen Diagonalen? Je mehr Felder sie bestreichen, desto höher ihre Wirkung (potenziell).
Im traditionellen Schach gibt es das „Fianchetto“, um den Läufer auf die lange Diagonale zu befördern. So ein Fianchetto dauert zwei Züge: Erst den b- oder g-Bauern vorziehen, um dem Läufer die Bahn zu bereiten, dann den Läufer auf die lange Diagonale stellen.
Schach960-Spielende haben Anlass zu frohlocken, sobald sie ihre Läufer auf den Eckfeldern a1, h1, a8 oder h8 sehen. Das ermöglicht ein Fianchetto in einem Zug: Den b- oder g-Bauern bewegen, und schon schaut der Läufer quer übers Brett. Er musste sich gar nicht bewegen und ist doch bestens entwickelt.
Allerdings haben die Läufer in der Ecke auch eine Schattenseite: ihre Unflexibilität. Sie können nicht leicht die Diagonale wechseln. Dafür sind zwei Züge erforderlich.
Zwei Fianchettos im ersten Zug!
3. Die Dame muss mitspielen!
Anders als mit den Läufern verhält es sich mit der Dame. Beginnt die stärkste Figur auf einem Eckfeld oder daneben, droht sie, keinen rechten Weg in die Partie zu finden.
Wie beim traditionellen Schach gilt beim Schach960: Nicht zu früh die Dame ins Spiel bringen, um sie nicht zum Ziel für die gegnerischen Leichtfiguren zu machen. Umso mehr gilt auch: Mittelfristig muss die Dame Wirkung entfalten, schließlich ist sie die stärkste aller Figuren. Ohne Dame geht es nicht.
Keymer empfiehlt, der Dame stets Routen offenzuhalten, über die sie in die Partie finden kann. Sperre sie nie hinter einen starren Phalanx von Bauern ein.
4. Harmonie
Nicht nur die Dame, alle müssen mitspielen, koordiniert sein, zusammenwirken. Leichter gesagt als getan. Und doch liegen manchmal Wege so nahe (für die Supergroßmeister!), dass die meisten sehr guten Spieler sie einschlagen.
Die Grundstellung der vierten Partie war so ein Fall. Vincent Keymer baute sich am Brett genauso auf, wie es zuvor im Stream sein Coach Peter Leko vorgeschlagen hatte. Ein Brett weiter schlug Magnus Carlsen eine ganz ähnliche Route ein: