Frühe Unfälle können selbst die Weltbesten beim Schach960 nicht ausschließen. Magnus Carlsens Rezept dagegen: den frühen Unfall vor die Partie verlegen, dann läuft es auf dem Brett rund. Nach einem mittäglichen Rasiermissgeschick bestritt Carlsen den Beginn der Partie gegen Nodirbek Abdusattorov mit einem Pflaster auf dem Kinn. Und blieb vor weiteren Unfällen verschont.
„Hauptsache, die alten Leute gewinnen“
Magnus Carlsen segelte ins Finale. Foto: Maria Emelianova
Nach zweieinhalb Stunden stellte Abdusattorov die Gewinnversuche ein – remis. Souverän zog der G.O.A.T. ins Finale der nach ihm benannten Freestyle-Challenge ein. Dort trifft er am Donnerstag und Freitag auf Fabiano Caruana, eine Neuauflage des WM-Matches 2018.
Die fast siebenstündige, hin und herwogende Halbfinalschlacht zwischen Caruana und Aronian verfolgte Carlsen ohne Präferenz für den einen oder anderen Finalgegner. „Hauptsache, die alten Leute gewinnen“, erklärte er lachend. Schon vor den letzten beiden Tagen steht fest, dass die Könige des Schachs die Buben noch einmal auf Distanz gehalten haben.
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Der finale Challenger hatte es im Halbfinale deutlich schwerer als Carlsen. Caruana musste erst zwei Türme einstellen und vor lauter Aufregung den Weissenhaus-Puls-Rekord (170!) brechen, bevor er sich im Armageddon gegen Levon Aronian durchgesetzt hatte.
Während das Publikum im Saal applaudierte und das an den Bildschirmen noch mit offenen Mündern starrte, nahm Aronian die Niederlage am Ende eines wilden Duells lakonisch hin. „Das war ein Spaß“, sagte der 41-Jährige nach sechs Partien, stand auf und zog von dannen, um sich an einem Glas Borino zu laben, dem fermentierten alkoholfreien Champagner, den Spieler und Team so sehr mögen.
„Das war ein Spaß“: Levon Aronian in seinem persönlichen Spielerraum. Foto: Maria Emelianova
Caruana brauchte nach einem dramatischen Auf und Ab länger, um seinen Puls ins Zweistellige herunterzufahren. „Ich zittere immer noch“, erklärte er im Freestyle-TV-Studio, wo er mit Kommentator Niclas Huschenbeth kritische Momente der sechs Partien durchging.
Eigentlich will die Nummer zwei der Welt den Wettbewerb gar nicht so angespannt bestreiten. „Ich fühle mich wohl hier, ich mag das Spiel, eigentlich will ich ohne Druck genießen“, erklärte Caruana. Aber er kann eben sein Wettkämpferherz nicht ruhigstellen. „Sobald ich am Brett sitze, wird es dann doch intensiv.“
Caruana's heartrate hit 170 as he blundered a rook again in a game he only needed to draw — we're going to Armageddon! https://t.co/GyHklkAHmd #FreestyleChess pic.twitter.com/1s6F8nD1HP
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Aronian und Abdusattorov spielen jetzt um Platz drei. Alireza Firouzja und Gukesh sind die Gewinner der beiden Halbfinals der unteren Turnierhälfte. Beide kämpfen jetzt im Match um Platz fünf um den von Organisator Jan Henric Buettner ausgelobten Platz in der (wahrscheinlichen) 2025er-Auflage der WEISSENHAUS Freestyle G.O.A.T. Challenge. Vincent Keymer und Ding Liren bestreiten das Match um Platz sieben.
Er brauchte ein paar Tage, um richtig warm zu werden, aber es scheint, dass Carlsen dort ist, wo er hin will. Dank einer weiteren guten Partie gegen Abdusattorov, in der er aus einer fast gewonnenen Stellung ein Remis erzwingen konnte, erreichte der norwegische Star als Erster das Finale der ersten WEISSENHAUS Freestyle Chess G.O.A.T. Challenge.
„Ich bin wirklich glücklich, hier zu sein“, sagte er über den Einzug ins Finale, als sein Gegner noch nicht bekannt war: „Ich habe das Gefühl, dass ich meine Form langsam wiederfinde. Ich bin ruhig und ich habe das Gefühl, dass ich meine Form zumindest ein bisschen finde, also unabhängig davon, gegen wen ich spielen werde, bin ich sehr zufrieden.“
Carlsen kam mit einiger Verspätung im Spielsaal an, zu spät, um sich den anderen Spielern bei der zehnminütigen Analyse vor der Partie anzuschließen. Bereits nach dem zweiten Zug betrat er die Beichtkabine und sagte, er sei „ziemlich optimistisch“, was den Beginn der Partie angeht.
Etwa 1,5 Stunden später legte er sogar ein zweites Geständnis ab, das er mit „Ich liebe dieses Spiel“ begann. Er wies darauf hin, dass die Spieler bereits die Hälfte ihrer Bedenkzeit in den ersten sieben Zügen verbracht hätten, dass die Partie aber jetzt erst richtig heiß würden. Danach ging er etwas näher auf seine Aufregung ein: „Es ist natürlich hart, aber es ist so interessant, vom ersten Zug an und jeden Tag völlig neue Situationen zu haben und tatsächlich etwas Zeit zum Nachdenken zu haben, also ja, es ist fantastisch.“
Nodirbek Abdusattorov schaffte es nicht, Magnus Carlsen einen großen Kampf aufzuzwingen. Foto: Maria Emelianova
Abdusattorov unterlief im 10. Zug eine Ungenauigkeit, und vier Züge später machte er einen noch größeren Fehler, als er eine ziemlich einfache Taktik übersah. Damit waren seine Gewinnchancen verspielt, und sobald Carlsen eine Möglichkeit sah, ein Remis zu erzwingen, griff er zu.
Vor dem Halbfinale hatte Carlsen seinen Gegner als den Spieler bezeichnet, der das beste Schach gezeigt hatte, aber besonders am zweiten Tag lief es leichter als erwartet: „Heute hat er nie wirklich eine Stellung bekommen, in der er um etwas spielen konnte, und dann ist es schwer, seine Fähigkeiten dort zu nutzen.“
Zu einem Zeitpunkt, an dem Aronian und Caruana noch ihr Endspiel bestreiten mussten, sagte Carlsen, dass es ihm ziemlich egal sei, wer sein Gegner sein würde: „Ich bin einfach nur froh, dass die alten Leute gewinnen, also egal gegen wen ich spiele, es wird eine Menge Spaß machen!“
In jeder der sechs Partien gegen Levon Aronian stand Fabiano Caruana auf Gewinn, und doch lieferten sich die beiden US-Supergroßmeister das bisher spannendste Match der WEISSENHAUS Freestyle Chess GOAT Challenge, gekrönt von der ersten Armageddon-Partie des Turniers.
„Das Problem war, ich habe ihm zwei Türme geschenkt“, erklärte Caruana hinterher. Den Zuschauenden schenkte er damit ein fast siebenstündiges Auf und Ab, das bis zum Ende dramatisch war.
Aronian hatte die erste Halbfinalpartie gewonnen, sodass Caruana in der klassischen Partie zurückschlagen musste. Als „meine wahrscheinlich beste Partie heute“ bezeichnete Caruana das Meisterstück zum Auftakt, das symmetrisch-unschuldig begann, bis sich nach und nach immer mehr Druck auf Aronians unrochierten König aufbaute.
Es stand 1:1, zwei Schnellpartien folgten. Die erste lief sehr gut für Caruana, der einen Gambitbauern schlug, ihn festhielt und dann nach und nach das Kommando übernahm. Auf der Uhr stand es zwischenzeitlich 4 Minuten vs. 10 Sekunden für Caruana. Aber auf dem Brett, oje:
Wieder brauchte Aronian nur ein Remis, um das Match zu gewinnen. Was er spielte, war allerdings alles andere als solide und remisträchtig. Der kreative Teufel auf seiner Schulter hatte ihm eingeflüstert, einen frühen Damenausflug zu unternehmen und möglichst keine Bauern anzufassen.
2:2. Blitz. Den Auftakt mit Schwarz dominierte abermals Caruana deutlich. Und auch die zweite Partie hatte er im Griff. Aber Caruana-Fans, die dachten, er werde nun das gewonnene Endspiel nach Hause fahren, sahen dieses:
Den zweiten Turm eingestellt! 3:3, Armageddon. Die Regel dafür gehen so: Schwarz bekommt, wer bereit ist, mit weniger Zeit zu spielen, Weiß bekommt 5 Minuten (kein Increment) und muss gewinnen.
Wie funktioniert das? Hauptschiedsrichter Gregor Johann erklärt, was jetzt zu tun ist. Foto: Maria Emelianova
Levon Aronian bot 4:14 Minuten, Caruana 4:11 – damit hatte er Schwarz. Und spielte wieder eine überzeugende Partie, in der er Aronian auf der Uhr bald eingeholt hatte und auf dem Brett unter Kontrolle hatte. Mit einem Verzweiflungsopfer versuchte Aronian, das Blatt zu wenden, aber diesmal endeten die Dinge regulär:
Ein Remis reichte Ding nicht, aber dennoch war seine Partie gegen Firouzja eine der besten Partien, die er hier im WEISSENHAUS gespielt hat. Da er bereits einen Sieg in der Tasche hatte, tauschte Firouzja gerne früh die Damen und suchte weiteren Abtausch, aber in der Zwischenzeit wuchs Dings leichter Endspielvorteil allmählich an.
Es sieht so aus, als hätte Ding im 30. Zug eine Chance gehabt, seinem Gegner das Leben schwer zu machen, aber als er ein wichtiges Schachgebot ausließ, konnte Firouzja mehr Bauern tauschen, wonach es nicht mehr so schwer war, das benötigte Remis zu erreichen.
Gestern sagte Firouzja, dass er „ohne Druck“ spiele, aber das könnte sich geändert haben, da Organisator Jan Henric Buettner ankündigte, dass die fünf besten Spieler zum Turnier im nächsten Jahr eingeladen werden. Das ist definitiv ein zusätzlicher Anreiz, in den verbleibenden Partien zu kämpfen, abgesehen von den 15.000 Dollar, die es hier zu gewinnen gibt.
Alireza Firouzja bleibt im Kampf um den fünften Platz, Ding Liren wird um den siebten Platz kämpfen. Foto: Lennart Ootes
Für die vier Spieler im Halbfinale der unteren Turnierhälfte hatte Organisator Jan Henric Buettner einen Extra-Preis angekündigt. Der Fünfte des 2024er-Turniers sei für die wahrscheinliche 2025-Neauflage qualifiziert.
Gukesh steht nach seinem Sieg im Stechen gegen Vincent Keymer diese Tür weiter offen. „Darüber bin ich sehr froh“, sagte er hinterher. Damit gerechnet hatte er nach der Auftaktniederlage mit den weißten Steinen kaum noch. „Ich wollte einfach nur eine gute Partie spielen. Es war etwas glücklich, dass wir eine sehr komplexe Stellung bekamen, in der Vincent von Beginn an viel Zeit verbrauchte. Am Ende ist seine Position schlicht kollabiert.”
Gukesh hatte nicht damit gerechnet, das Match gegen Vincent Keymer noch zu drehen. Foto: Maria Emelianova
Peter Leko sah früh, dass diese Weißpartie für einen Schützling Vincent Keymer nicht gut läuft. „Ich bin nicht glücklich damit, das ist nicht Vincents Stil“, lamentierte der Ungar, als Keymer arg passiv aus der Eröffnung herauskam.
Wenig später in der Beichtkabine stellte sich heraus, dass Vincent Keymer auch nicht glücklich ist. „Keinen Grund, stolz zu sein“ sah er angesichts einer Partie, die von Beginn an gegen ihn lief.
Damit hatte Gukesh Keymers Auftaktschwarzsieg mit einem ebensolchen gekontert. 1:1 nach den klassichen Partien – Stechen. “Da war ich ganz entspannt”, berichtet Gukesh. Er habe ganz frei von Druck gespielt, und es seien gute Partien herausgekommen, besonders die erste, die er mit Weiß trotz erheblichem Druck auf der Uhr gewann.
„In der zweiten war ich zwischenzeitlich komplett verloren. Aber ich habe mich weiter verteidigt, so gut es ging.“ Dann passierte dieses: